Gelesen: Sturmmädchen

Sturmmädchen von Lilly Bernstein

1938 war meine Oma zwölf Jahre alt. Damit war sie zu dieser Zeit jünger, als die drei Protagonistinnen im neuen Buch (Werbe-Link) von Lilly Bernstein, Sturmmädchen, das in den 1930er Jahren spielt. Eigentlich kein Wunder also, dass mich Szenen, die die Kölner Autorin beschreibt, an Geschichten erinnern, die meine Oma und mein Opa mir erzählt haben. So gibt es in dem Buch beispielsweise eine junge Frau, die von einem verheirateten Mann geschwängert wurde. Er wollte von dem Kind nichts wissen, sie musste Geld verdienen, und so kümmert sich ihre Schwester Käthe um den Jungen. Auch meine Oma hat mir ähnliche Geschichten erzählt: von jungen Frauen, die Kinder bekommen haben, deren Väter sich aus dem Staub gemacht haben, und die darum bei den Geschwistern lebten. 

In anderen Gesellschaften ist das übrigens auch heute nicht unüblich, denn gerade in den Schwellen- und Entwicklungsländern lassen viele junge Mütter ihre Kinder mit ihren Großeltern, Tanten oder anderen Verwandten zurück, um im wohlhabenden Ausland Geld zu verdienen, und so ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

Sturmmädchen – die 1930er Jahre sind hochaktuell

Aber zurück zu den Sturmmädchen: Käthe, Elli und Margot verbringen ihre gemeinsame Kinder- und Jugendzeit in der Nähe von Monschau. Der kleine Ort in der Eifel liegt ungefähr 100 Kilometer von Köln entfernt. Er ist heute ein beliebtes Ausflugsziel für die Großstädter. Denn erstens ist der Kern von Monschau wie aus dem Bilderbuch, zweitens gibt es dort den berühmten Senf. Viele Szenen spielen außerdem in Aachen.

Politisch gesehen ist das Buch aktuell. Nur ein Beispiel: Da rechtfertigt Käthe, eine stramme Nationalsozialistin, die Beleidigung einer jüdischen Familie mit der Menge an Alkohol, die die pöbelnden Männer getrunken hatten. Ähnlich ist es erst neulich in Bayern, aber auch in anderen Bundesländern gewesen: Junge Menschen, die „Ausländer raus“ in einer Disko oder auf Karnevalsumzügen gegrölt hatten, wurden ebenfalls damit entschuldigt, dass sie gefeiert haben, über die Stränge geschlagen und Alkohol getrunken hatten.

Worum geht es bei Sturmmädchen

Die Handlung des Buches ist wenig überraschend für die Zeit, in der es spielt: Während Käthe also Nationalsozialistin ist, ist Margot Jüdin. Und Elli, die eine körperliche Behinderung nach einer Polio-Erkrankung hat, steht zwischen den beiden. Sie fühlt sich unnütz und ist überdies ein wenig naiv, was das politische Geschehen im Land betrifft. Wobei diese Einschätzung rückblickend vielleicht zu einfach ist: In den 1930er Jahren, in einem entlegenen Dorf und ohne die heutige Medienvielfalt, war es sicherlich schwieriger als heute, zu wissen, was passierte. Vielleicht gab es wirklich Menschen, die nichts davon wussten, dass die Nationalsozialist*innen Juden und Jüdinnen, aber auch scheinbare Staatsfeind*innen gequält, gefoltert und getötet haben. Meine Oma ist übrigens auch in einem sehr kleinen Dorf aufgewachsen. Und ja: Eine Adolf-Hitler-Straße gab es dort auch.

So oder so: Elli lernt die Bösartigkeit dieser Zeit in vielen Situationen kennen – und mit ihr auch die Leser*innen, die sich vielleicht bisher nicht mit diesem Thema beschäftigt haben. Ich hoffe, dass es möglichst viele Menschen lesen werden, die danach ganz im Sinne von Elli handeln und sich für die Schwachen einsetzen – auch und gerade in der heutigen Zeit.

Was ich an den Büchern von Lilly Bernstein mag

Lilly Bernstein beschreibt die Szenen so detailliert, dass das Kopfkino bei den Lesenden anspringt. Das ist grundsätzlich nur dann möglich, wenn man sehr, sehr viel recherchiert hat – speziell, wenn Bücher in einer Zeit spielen, in der man selbst nicht gelebt hat. Es gibt viele Regional- und Lokalkrimis, bei denen ich denke, dass die Städte austauschbar sind. Krimis, die man nebenher liest, ohne dass man wirklich mitfiebert. Bücher, die keine Bilder beim Lesen erzeugen. Das ist bei den beiden Büchern, die ich von Lilly Bernstein gelesen habe, anders. 

Gerade in Sturmmädchen sind die Szenen so eindrücklich beschrieben, dass ich an manchen Stellen eigentlich gar nicht weiterlesen mochte. Natürlich hängt das auch damit zusammen, dass man die geschichtlichen Zusammenhänge kennt, und rückblickend sehr genau weiß, wie bösartig diese Zeit war. Man hat also eine Ahnung davon, was passieren könnte.

Das ist aber auch der Grund, warum ich denke, dass dieses Buch genau zur richtigen Zeit auf den Markt gekommen ist. Ich hoffe sehr, dass wir eine Zeit, in der Menschen im Wald erschossen werden, weil sie nach Belgien flüchten wollen, um ihr Leben zu retten, in Deutschland und Westeuropa niemals mehr erleben müssen. Je mehr Menschen, die sich bisher nicht mit der Geschichte auseinandergesetzt und an Politik kein Interesse haben, dieses Buch lesen, desto besser. Vielleicht verstehen sie nach der Lektüre eher, warum es sich lohnt, die Demokratie zu verteidigen.

Der Ullstein Verlag hat mir das Buch kostenlos zur Rezension überlassen.

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