„Findelmädchen“ spielt im Köln der Nachkriegszeit

Findelmädchen – ein Roman über Geschichte und Geschichten in Köln

Bist du schon einmal im Bunker in der Könerstraße in Ehrenfeld auf einer Ausstellung gewesen? Dann hast du sicherlich über die schweren Tore gestaunt, die aussehen, als ob sie von einem riesigen Tresor stammten. Innen, umgeben von den dicken Mauern, ist es immer kühl, selbst wenn draußen Hochsommer ist. Der Bunker – K101 – ist natürlich ein Relikt aus einer anderen Zeit: Er war im Krieg Luftschutzraum für 1500 Menschen aus der Nachbarschaft. Allerdings waren dort häufig sehr viel mehr Bürger*innen. Von bis zu 7500 ist die Rede. K101 war bis Mitte der 50er Jahre Elendsquartier für Familien, alleinstehende Frauen mit Kindern, Kranke oder Geflüchtete. Und in dieser Funktion spielt er im Buch Findelmädchen eine Rolle.

Der Hochbunker in Ehrenfeld heute
Der Hochbunker in Ehrenfeld heute

Denn das Findelmädchen – Helgalein – wohnt dort nach dem Krieg mit ihrem Bruder, der Mutter und der Tante für einige Jahre. Doch das Buch spielt nicht in dieser Zeit, sondern erst etwa zehn Jahre später. Geschrieben hat es Lioba Werrelmann, Journalistin und Autorin, unter dem Pseudonym Lilly Bernstein. Findelmädchen ist ihr zweites Buch, das in der Kölner Nachkriegszeit spielt. Das erste heißt Trümmermädchen.

Um was geht es in Findelmädchen?

Die eigentliche Geschichte des Buches ist keine, die mich normalerweise interessieren würde: Ein junges Geschwisterpaar erfährt in den 50er Jahren, dass ihr Vater die Gefangenschaft überlebt hat. Darum kommen sie in ihre Heimatstadt Köln zurück. Helgalein würde gerne aufs Gymnasium gehen, der Vater schickt sie jedoch auf die Haushaltungsschule. So kommt sie zum Praktikum ins Kölner Waisenhaus am Sülzgürtel, seinerzeit das größte in Deutschland, eventuell sogar in Europa. Bis zu 1000 Kinder waren dort untergebracht. Die Geschichte um Helgas Leben und Erwachsenwerden in einer schwierigen, aber auch aufregenden Zeit nimmt ihren Lauf. Am Ende sind alle Probleme und Problemchen gelöst. Happy Ending Story – vorerst.

Warum ich das Buch trotzdem faszinierend fand

Lioba ist Journalistin. Bei einem literarischen Get together des Ullstein-Verlags in Sülz im Biergarten Em Birkebäumche erzählt sie, wie sie recherchiert hat, um die deutsche und speziell die Kölner Nachkriegszeit möglichst realitätsnah zu beschreiben: „Ich habe mir Bildbände aus der Zeit gekauft, Filme angesehen und war im Haus der Geschichte“, sagt sie. Außerdem hat sie in einem Lexikon der Jugendsprache immer wieder die passenden Ausdrücke aus dieser Zeit herausgesucht – magniperb. Und natürlich auch die Musik dieser Jahre gehört. Dazu gehört beispielsweise „Ganz Paris träumt von der Liebe“ von Caterina Valente, das im Buch besonders gerne in der Milchbar gespielt wird. Auch sie hat eine zentrale Rolle – und kann, so wie sie beschrieben ist, im Freilichtmuseum in Kommern bestaunt werden.

Für Lioba ist die Milchbar persönlich wichtig. Denn die Bar, so heißt es im Buch, ist ein „Ort, wo Milch und Honig“ fließen. Und Lioba selbst in Bäckerstochter. Beim Get together erinnert sie sich, dass sie als Kind zu dünn war. Darum bekam sie aus dem Sahnespender in der Bäckerei häufig einen großen Berg auf einen orangefarbenen Teller und durfte diesen dann in sich hineinlöffeln. Ein Traum! Kein Wunder, dass sie dieser Erinnerung ein kleines literarisches Denkmal setzen wollte. Um so besser, dass es sich so nahtlos in die Geschichte um Helga einbetten ließ. 

Findelmädchen – schockierende Vergangenheit des Waisenhauses

Diese lässt Lioba durch Köln düsen, häufig auf ihrem feuerwehrroten Fahrrad, und die Leser*innen sind immer dabei: Vorbei an der Straße Im Stavenhof, damals noch Zentrum des Rotlichtviertels, über die Ringe mit der Brunnenanlage in den Süden zum Kinderheim. Um möglichst nah an der Wahrheit zu beschreiben, was dort damals Alltag war, hat Lioba sich unter anderem mit zwei ehemaligen Waisenkindern unterhalten.

Die Beschreibungen dessen, was auf dem großen Gelände damals passiert ist, sind schockierend. Eine Gedenktafel an der Kirche erinnert heute daran, wie Kinder misshandelt, geschlagen und verprügelt wurden. Die Leitung des Heimes lag damals bei den Schwestern vom armen Kinde Jesu. Ein katholischer Orden. Spricht man über die derzeitige umstrittene Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche in Köln, sollte man auch einen Blick auf das werfen, was damals im Kölner Waisenhaus passiert ist. Insofern kommt dieses Buch, selbst wenn es Belletristik ist, im richtigen Moment. Auch im Internet gibt es viele Kommentare zu diesem Thema, beispielsweise in der Wayback Machine. Dessen ungeachtet gab es auch Kinder, die im Heim glücklicher waren als bei ihren Eltern.

Heute stehen auf dem ehemalige Waisenhausgelände übrigens Wohnblöcke. Ein Platz erinnert an Kinderrechte, ein anderer an die Kölnerin Elisabeth von Mumm, die sich für Frauenrechte einsetzte. 

Ich wusste nichts über die Geschichte des Waisenhauses, und ich kannte auch diesen neuen Wohnkomplex nicht, bis ich bei diesem Get together war. Die Kapitel, die im Waisenhaus spielen, haben mich schockiert. Davon abgesehen habe ich es aber sehr genossen, mit Helgalein durch Köln zu düsen. Denn jeder Ort, jede Straße, jeder Platz ist genauso beschrieben, wie er ist. Ich wusste also jederzeit, wo genau unsere Protagonistin gerade ist. Und das hat mir beim Lesen sehr viel Spaß gemacht.

Der Ullstein Verlag hat mir das Buch kostenlos zur Rezension überlassen.

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