Paris habe sich durch die Terroranschläge nicht verändert, sagte mir neulich eine Buchautorin, die einen Reiseführer über Paris geschrieben hat. Nur die Touristen hätten jetzt Angst, aber Paris sei noch immer Paris. Um ehrlich zu sein: Ich finde, die Hauptstadt hat sich gewaltig verändert. Das beginnt bereits, als wir mit dem Thalys am Gare du Nord ankommen: Wer in Paris in unruhigen Zeiten in die Metro will, muss Sicherheitskräfte in die Taschen schauen lassen. Auf dem Rückweg, bevor man in den Thalys einsteigt, gehen die Reisenden durch eine Sicherheitskontrolle wie am Flughafen. Es ist zwar schon einige Jahre her, dass ich zuletzt mit dem Thalys gefahren bin, aber ich bilde mir ein, dass es diese Kontrolle damals noch nicht gab.
Auch im Stadtbild sind Polizei, Militär, Maschinengewehre, Sicherheitskontrollen allgegenwärtig. Sie stehen vor den Metro-Eingängen an der Rue de la Chapelle, in der Halle Pajol geht ein Sicherheitsmann zwischen den Hochbeeten und Holzbänken hindurch, vorbei an der kleinen Gruppe, die dort Tai Chi macht. Vor der Kirche Sacre Coeur auf dem Montmartre hat sich eine lange Schlange gebildet, weil die Besucher durch ein Zelt müssen, vorbei an Sicherheitskräften, die ihre Handtaschen kontrollieren. So war es sogar am Eingang zu Le Grand Train, einem Depot des SNCF mit alten Zügen und Streetfood-Ständen sowie Liegestühlen auf den Gleisen.
Zeltstädte mitten in der Stadt
Ob dieses Großaufgebot an Kontrolle tatsächlich hilft, einen Anschlag oder ein Attentat in Paris in unruhigen Zeiten zu verhindern? Vielleicht in der Kirche, vielleicht in der Metro – aber was ist mit der Straße, den Parks, den Brücken? Dort sind so viele Menschen unterwegs, dass es nicht auffallen dürfte, wenn jemand einen Rucksack mit gefährlichem Inhalt abstellt. Davon abgesehen: Einen weißen Lastwagen auf der Straße, der in Menschengruppen fährt, kann man auch mit Absperrungen nicht aufhalten, wie wir alle schmerzhaft lernen mussten.
Umso unverständlicher ist mir, dass Paris, dass Frankreich, dass Europa es duldet, dass mitten in der zweitgrößten europäischen Stadt Zeltstädte entstehen. Natürlich: Clochards, Obdachlose, gab und gibt es schon immer in Paris. Rund um den Gare du Nord, in den Seitenstraßen des Boulevard de Magenta, ausgerechnet nahe einer Straße mit Namen Rue de Paradis haben wir morgens um 10 Uhr viele gesehen, die auf Metro-Schächten Wärme suchten. Mitten auf dem Trottoir, oder etwas versteckter in Laden- und Hauseingängen. Nur eine Handbreit entfernt sitzen diejenigen, die mehr Geld haben, im Café bei Croissant und Heißgetränk.
Paris in unruhigen Zeiten: ein Schmelztiegel von arm und reich
Was aber beim Place de la Bataille de Stalingrad passiert, hat eine andere Dimension. Dort, gegenüber des Wasserbeckens, des Bassin de la Vallette, gibt es eine Markt, auf dem regionale Produkte verkauft werden: Längliche Radieschen, mehr weiß als pink, Salatköpfe, Honig. Es ist ein kleiner Markt, und die ebenfalls kleinen Stände sind umdrängt von Käufern. Ihnen gegenüber, auf einer niedrigen Mauer, sitzen eng nebeneinander Männer mit überwiegend dunklen und sehr dunklen Hautfarben. Worauf sie warten, weiß niemand, was sie sich erhoffen, kann man nur ahnen.
Lässt man den Blick an ihnen entlang wandern, bis ans Ende dieser langen Reihe, landet der Blick automatisch bei Zelten. Nicht eines, nicht zwei, sondern viele stehen hier eng gedrängt auf einem kleinen Flecken, auf dem ehemals Gras wuchs. Geht man rechts an den Zelten vorbei, sieht man, dass das nur ein kleiner Teil dessen ist, was hier mitten in Paris passiert: Der Mittelstreifen unter der Brücke ist in beide Richtungen voll mit Zelten und dunkelhäutigen Männern. Manche sitzen in Grüppchen zusammen, hier und dort liegen Matratzen. Wer die Straße überquert, durchquert automatisch diese kleine Zeltstadt. Der Verkehr umtost sie, die Pariser gehen hindurch, als ob sie nicht existierte. Oder hat man sich einfach schon so an dieses Bild gewöhnt wie an die vielen Sicherheitskräfte? Dann selbstverständlich ist es leicht zu sagen: Paris hat sich nicht verändert.