Bei meiner Reise durch Guatemala treffe ich Michael Mörth. Der gebürtige Dortmunder lebt schon seit vielen Jahren in Guatemala. Als Anwalt setzt er sich bei einer guatemaltekischen Organisation dafür ein, dass die Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkriegs aufgearbeitet und gesühnt werden. Der Artikel über mein Gespräch mit Michael Mörth wurde Anfang 2003 zuerst im ded-brief veröffentlicht: Die Schatten der Vergangenheit.
Die Schatten der Vergangenheit reichen in die Gegenwart
Nicht überall lebt es sich so friedlich wie in Deutschland. Das weiß Michael Mörth sehr genau. Der gebürtige Dortmunder lebt und arbeitet als Menschenrechtler und Jurist seit sieben Jahren in Guatemala City. Bettina Blaß traf Michael Mörth dort und sprach mit ihm über sein Leben in Zentralamerika, seine Arbeit und warum er nicht mehr nach Deutschland zurückmöchte:
Geboren vor 50 Jahren in Dortmund. Findet als Kind Südamerika „mysthisch“. Studium in Bochum, danach Strafverteidiger mit eigenem Büro in der Heimatstadt. Träumt davon, noch Geschichte zu studieren – oder eine längere Zeit nach Südamerika zu reisen. Mitbegründer der Strafverteidigervereinigung Nordrhein-Westfalen. Das ist Michael Mörths Leben in Deutschland. Anfang der 90er Jahre nimmt er drei Monate Urlaub und geht nach Guatemala. Dort baut er ein Projekt zur Rückführung der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Mexiko mit auf. 1994 arbeitet er wieder in Zentralamerika – 1995 zieht er endgültig dorthin.
Nunca mas
Er sollte bei REMHI (Projecto Interdiocesano de Recuperación de la Memoria historica – „Projekt zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses“) mitarbeiten, einer Organisation der katholischen Kirche. „Dabei konnte ich mein Interesse an Südamerika und Geschichte kombinieren. Ich musste nicht lange nachdenken“, sagt er. Seine Aufgabe: Mit anderen zusammen die Wahrheitskommission vorbereiten. Er arbeitete in dieser Zeit eng mit Bischof Juan Gerardí, dem Kopf der Organisation zusammen. Nach drei Jahren war der Bericht „Guatemala: Nunca más! – Nie wieder!“ fertig. Er beschreibt die Geschichte der Menschenrechtsverletzungen während des 36jährigen Bürgerkrieges aus Sicht der Opfer mit vielen Beispielsfällen. Laut diesem Bericht trägt das Militär die Hauptverantwortung dafür. Am 24. Februar 1998 stellte REMHI den Bericht vor. Zwei Tage später wurde Bischof Gerardí ermordet.
Am 8. Juni 2001 wurden die drei im Mordfall Gerardí angeklagten Militärs, José Obdulio Villanueva, Byron Miguel Lima Oliva und dessen Vater, Byron Disrael Lima Estrada, zu je 30 Jahren Haft, ein angeklagter Priester, Orantes Nájera, als Mittäter zu 20 Jahren Haft verurteilt. Zeugen und Richter bekamen im Vorfeld des Prozesses Drohungen. Man wollte sie einschüchtern. Ende Oktober 2002 wird das Gerardí-Urteil wieder aufgehoben. „Politische Manipulation“, sagt Mörth. Alle erwarten die Revision Anfang 2003 mit Spannung.
Gründung von CAFCA
Sein nächstes Projekt: Er arbeitet in einem Team, das die Prozesse gegen die Generäle Efraín Ríos Montt und Lucas García vorbereitet. Sie sollen dafür verantwortlich gemacht werden, nach der Strategie der „Verbrannten Erde“ den Befehl gegeben zu haben, Hunderte Dörfer im guatemaltekischen Hochland zu zerstören und die indigene Bevölkerung und ihre sozialen Netze auszurotten. „Den direkten Befehl kann man ihnen nicht nachweisen“, erklärt Michael Mörth, „aber dass die Massaker in ihrer Massivität und Koordinierung nur durch Befehl von oben möglich waren“. Ein Bericht der Vereinten Nationen geht davon aus, dass über 90 Prozent der Straftaten vom Militär, staatlichen und paramilitärischen Einheiten verantwortet werden müssen. Wann es in den Fällen Ríos Montt und García zu einem Prozess kommt, weiß keiner.
Mörth und einige Kollegen beginnen 1999, CAFCA (Centro de Analisis Forense y Ciencias aplicas – Zentrum für forensische Analyse und angewandte Wissenschaften) aufzubauen. Die Organisation hat heute 20 Mitarbeiter und wird vom Deutschen Entwicklungsdienst unterstützt. Auch dem Evangelischen Entwicklungsdienst liegt ein Antrag vor. CAFCA exhumiert Leichen, die im Bürgerkrieg ums Leben kamen. 1982 beispielsweise wurden bei einem Massaker 320 Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder umgebracht. Mit der Exhumierung sollen die Hinterbliebenen die Vergangenheit bewältigen und ihre verstorbenen Angehörigen würdig bestatten können. Gleichzeitig werden aber auch Beweise gesichert. Denn CAFCA arbeitet als Sachverständige für die Staatsanwaltschaft. „Das ist die einzige Möglichkeit, um die Verantwortlichen der Massaker ins Gefängnis zu bringen.“
Letztendlich kann bei einer Exhumierung nur eine mögliche Todesursache festgestellt werden, denn die Menschenrechtler finden nur noch Knochen. „Es lässt sich heute nicht mehr feststellen, ob ein Schuss die Todesursache war oder etwas anders. Fest steht nur: ‚Es gab einen Schuss. Er könnte die Todesursache gewesen sein’.“
Ein schwieriges Land
Die Arbeit von CAFCA und anderen Menschenrechtsorganisationen gefällt nicht allen Guatemalteken. Ende Februar 2002 bekommen verschiedene Mitarbeiter Todesdrohungen per Brief oder Telefon. Ein Kollege aus einem anderen Projekt wird gefoltert, ein anderer erschossen. Die Regierung gibt schließlich zu, dass es paramilitärische Strukturen gibt, die sie nicht kontrollieren kann. Das Büro von CAFCA wird seither von der Polizei bewacht – „und gleichzeitig überwacht“, ergänzt Mörth.
„Guatemala ist ein sehr schwieriges Land“, fasst es Michael Mörth zusammen. „Über viele Jahre wurden die Leute eingeschüchtert. Sie sagen Dinge nicht so direkt wie wir. Und wir verstehen nicht immer, was sie uns sagen wollen.“ In Guatemala regieren noch immer Angst und Verschüchterung. Wer den Krieg erlebt hat, hat mehr als nur Illusionen verloren. Insgesamt sind 200.000 Menschen verschwunden oder tot.
Trotz der Bedrohungen und der Härte des guatemaltekischen Lebens will der Dortmunder nicht mehr weg. Bei REMHI hat er Claudia Estrada kennen gelernt. Sie heirateten 1998. Das ist ein Grund, der Mörth in Zentralamerika hält. Aber es ist mehr: “Guatemala hat neben vielen Leuten, die Dreck am Stecken haben, auch sehr viele Menschen, die wunderbare Dinge tun. Sie sind idealistischer als die Deutschen. Es ist die Einsicht, es muss etwas passieren, ich muss etwas tun. Und das liebe ich an Guatemala.“