Wir hatten so viel von der Weite Patagoniens gehört, dass wir sie nicht einfach überfliegen wollten. Eher zufällig hatten wir im Internet gesehen, dass die Besitzer der Hosteria Katy auch ein kleines Reisebüro mit Mehr-Tages-Touren durch Patagonien anbieten. Wir ließen uns einen Kostenvoranschlag machen für eine Selbstfahrertour mit Mietwagen und für eine geführte Tour. Da der Mietwagen von El Calafate zurückgeführt werden hätte müssen, war das eine sehr teure Option. Mit Tourleiter lag der Preis ähnlich hoch, aber wir würden keinerlei Verantwortung auf der nicht ganz einfachen Strecke tragen müssen. Also entschieden wir uns dafür, vier Tage mit Dirk Gerhards durchs Land zu fahren. Rückblickend war das genau richtig. Ohne Dirk hätten wir vermutlich viele Ziele auf der Strecke nicht gefunden, wir hätten wahrscheinlich bei einigen Wegen aufgegeben – aus Angst das Auto zu ruinieren. Und auch in mindestens einer Übernachtungssituation wären wir überfordert gewesen. So konnten wir nicht nur in Ruhe die Landschaft genießen, sondern bekamen auch noch kompetente Informationen zu dem, was wir sahen. Es war eine perfekte Reise und ein im wahrsten Sinne des Wortes einmaliges Erlebnis.
Unsere Tour durch Patagonien startete in San Carlos de Bariloche. Durch das argentinische Seengebiet fuhren wir am ersten Tag durch eine grüne, bewaldete Region bis Esquel. Um die Mittagszeit hatte Dirk eine Bergwanderung für uns vorgesehen – und der Weg auf den Gipfel war verdammt steil. Dort gab es eine kleine Holzhütte, in der die argentinische Version von Pizza serviert wurde: Teig, etwas Tomate und sehr viel Käse. Auf dem Rückweg besuchten wir einen Künstler-wald: Dort treffen sich jedes Jahr Kreative, die aus abgestorbenen Holzstämmen Skulpturen schnitzen. Und so spaziert man von der Himmelsleiter zum Engel, von Gauchos zu Wildschweinen, von abstrakten Figuren zu Alltäglichem. Am zweiten Tag saßen wir hauptsächlich im Auto, um bis zur Cueva de las Manos zu kommen. Wir schliefen dort auf der Estancia und wanderten am kom-menden Tag durch einen Canyon bis zur Höhle, die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Vor vielen tausend Jahren hatten dort die Bewohner ihre Handabdrücke an der Felswand hinterlassen, und darum kommen hier jährlich viele Touristen hin. Der dritte Tag gehört zu denen, die am ehesten im Gedächtnis bleiben. Er führte uns zur Estancia Adina, die irgendwo im Nirgendwo liegt. Und an unserem letzten Tag fuhren wir schließlich bis zu den türkisfarbenen Gletscherseen vor El Calafate.
Irgendwo im Nirgendwo
Insgesamt sind wir also 1.700 Kilometer von Bariloche nach El Calafate gefahren, davon etwa 450 Kilometer auf Schotterpiste. Wir haben dreimal in landestypischen Estancias übernachtet, das sind Farmen oder ehemalige Farmen. Um zur dritten Estancia am insgesamt zehnten Tag zu kommen, waren wir schon viele Kilometer auf der Ruta 40 gefahren. Um zur Estancia zu gelangen, mussten wir von der Ruta 40 abbiegen und 20 Kilometer auf einer Schotterpiste Richtung Chile fahren. Nach 20 Kilometern hätten wir eigentlich rechts abbiegen und nochmals 11 Kilometer fahren müssen. Aber an dieser Weggabelung steht ein Parador, eine Art Vorposten und Rasthaus. Dirk wollte uns hier ankündigen, doch er erfuhr, dass die Reservierung zwar angekommen, mehrfach bestätigt, aber trotzdem nicht geklappt hatte: Die Besitzer der Estancia, die vor einigen Monaten ge-wechselt hatten, waren nicht da, das Hauptgebäude war nachts von Dieben ausgeräumt worden, die Gästehäuser waren heruntergekommen und schmutzig. Nun standen wir also irgendwo im Nirgendwo.
Bei uns würde man jetzt das Handy nehmen und den Verantwortlichen anrufen. Da es in großen Teilen Patagoniens aber keinen Strom und so auch kein Handynetz gibt, geht das nicht. Alternative 1: eine andere Unterkunft suchen. Das ging jedoch auch nicht, weil es schon spät war, die nächsten Estancias oder Orte etwa 100 Kilometer entfernt waren, und man auch dort nicht die Garantie auf ein freies Zimmer beziehungsweise überhaupt ein Hotel gehabt hätte. Also haben wir uns für Alternative 2 entschieden: eine Übernachtung im Parador. Der ist jedoch nicht für Übernachtungen gedacht. Also hat der Gaucho, in dem Fall ein etwa 20-Jähriger, der eher zufällig die Stellung hielt, uns freundlicherweise eine Matratze in das sogenannte Wohnzimmer des Paradors auf den Boden gelegt. Dazu gab es dicke, alte Decken aus der Estancia, keine Dusche und ein von ihm selbst zubereitetes Essen aus Kalbfleisch, Kartoffeln und Tomaten – das von den Umständen abgesehen sehr lecker war.
Diese Estancia befindet sich in einem Nationalpark, der im Jahr von 1.000 Menschen besucht wird. Das macht am Tag 3, also ein Auto – mehr oder weniger. Das heißt, wir hatten das Soll für den Tag erfüllt. Diese Einsamkeit kann einen schon auf merkwürdige Gedanken bringen: Wie kommt man beispielsweise schnell hier weg, wenn etwas passiert, was einem nicht gefällt? Bettina, die sich Sorgen um unsere Sicherheit machte, hatte sich gerade angefangen, wohl zu fühlen, als zu unser aller Überraschung ein LKW auf das Paradorgelände fuhr, aus dem vier kräftige Männer stiegen. Dirk erfuhr, dass sie von der mindestens 25 Kilometer entfernten Baustelle kamen, um hier ein Bier zu trinken. Da es im Parador erstaunlicherweise Satelliten-Internet gab, nutzten sie diesen Platz, um via E-Mail oder Facebook-Chat mit ihren Familien zu kommunizieren. Das klingt jetzt alles harmonisch. Tatsächlich empfanden wir die Situation als angespannt: Wir haben die Männer nicht verstanden, sie tranken drei Literflaschen Bier – was eigentlich nicht viel ist, aber wir wussten ja nicht, wann sie zu trinken aufhören würden, und es gab keine Möglichkeit, schnell im Notfall Hilfe zu holen.
Gegen Mitternacht fuhren die vier jedoch wieder, und Dirk und wir beide legten uns ins “Wohnzimmer”, die Tür abgeschlossen. Da der gusseiserne Ofen im Zimmer nicht geheizt werden konnte, weil er rußte, war es bitterkalt. Bettina und ich hatten nur unsere leichten Baumwollschlafsäcke dabei, darüber die staubigen Decken und über Brust und Schultern Bettinas Winterjacke. Wir haben beide nicht besonders gut geschlafen: Es war unfassbar stürmisch und dadurch laut, und es gab viele merkwürdige Geräusche, die wir nicht zuordnen konnten. Wir wussten außerdem nicht, ob jemand nachts kommen würde, um die Gelegenheit zu nutzen, uns auszurauben. Letztendlich ging alles gut. Wir waren und sind sehr froh, die Tour nicht alleine, sondern mit Dirk gemacht zu haben. Alleine wären wir mit der Situation überfordert gewesen. Trotzdem und rückblickend kann man lachend sagen: Wir hatten eine atemberaubende Aussicht, einen wunderschönen Sonnenun-tergang und schließlich jetzt auch eine lustige Geschichte zu erzählen.(Jörg Düspohl)
Straße der Begegnungen
Auf der Ruta 40 trifft man eine Menge Leute, nette, merkwürdige, je nachdem. Wir haben in den vier Tagen einige – nennen wir es – Bekanntschaften gemacht:
Der Dieb: Wir haben am Abend unseres ersten Tages in der Pension ziemlich blöd geschaut, als wir feststellten, dass alle drei Rucksäcke, also auch der unseres Reiseleiters Dirk, geöffnet waren. Wir vermuten, dass der Dieb am Auto war, als wir den Berg bestiegen und den Wald mit geschnitzten Holzstämmen besuchten. Die Rucksäcke waren im verschlossenen Auto, und dem Wagen sah man nicht an, dass jemand daran war. Trotzdem fehlen seither Jörgs Windjacke, meine kleine Videokamera, ein alter, leerer Geldbeutel – und leider mein Ladekabel für iPhone und iPad. Das heißt, wir sind jetzt erstmal auf Internetcafes angewiesen. Um die Videokamera ist es nicht schade: Ich hatte sie im Sonderangebot gekauft, und ich hoffe, der Dieb weiß ihre Qualität zu schätzen. Meine große Videokamera hatte ich zum Glück bei der Wanderung dabei. Und für Jörg haben wir gestern eine neue Jacke gekauft – seine war fünf Jahre alt. Gut, dass uns der Dieb unsere Rucksäcke mit der Kleidung gelassen hat. Sonst hätten wir ein echtes Problem gehabt.
Der Chilene: Dirk hat mit uns immer gepicknickt. An einem Tag saßen wir an einem schönen Fluss und schauten in die Landschaft, als von hinten zwei Autos kamen. Dirk: ”Chilenen. Wetten, die setzen sich jetzt direkt neben uns?” Die Chilenen stiegen aus, gingen in die Büsche, um zu pinkeln, Dirk plauschte mit ihnen. Dann gingen sie zu den Autos zurück, wir dachten, sie fahren weg. Tatsächlich holte ein Chilene sein Auto und stellte es direkt vor uns, so dass wir den Fluss nicht mehr sehen konnten. Dirk beschwerte sich bei dem Mann, doch der war völlig schräg drauf: Ihn störe das nicht, dass wir den Fluss nicht mehr sehen könnten, er habe ein Recht darauf, da zu ste-hen und so weiter. Die Diskussion wurde immer hitziger, und schließlich gab der Chilene wutschnaubend nach und verschwand mit seiner Sippe.
Der Bauarbeiter: Da die Ruta 40 eine große Baustelle ist, trifft man auch auf viele Bauarbeiter. Mein Spanisch ist so gut nicht, dass ich mit allen Leuten plauschen könnte. Dirk wohnt aber seit 13 Jahren hier und spricht perfekt die Sprache. Und immerhin verstehe ich das Meiste, was so gesagt wird. Als die Straße mal wieder gesperrt war, sprach Dirk also mit einem Bauarbeiter, der fragte, woher wir kommen. Er war sehr jung, in seinen 20ern, schätze ich. Als er hörte, dass wir Deutsche sind, fasste er sich an sein Ziegenbärtchen und sagte: ”Mein Großvater war auch Deutscher. Nazi, weißt Du. Er war ein echter Hurensohn. Bei mir sieht man nur an einigen blonden Strähnen im Bart, dass ich weiße Vorfahren habe. Sonst ist zum Glück alles an mir Latino.”
Die Motorradfahrer: Etwas später bot sich uns ein merkwürdiges Bild. Am Straßenrand standen zwei schwere Motorräder. Dahinter saßen zwei Männer. Einer hatte eine Lederhose an, aber einen nackten Oberkörper, der zweite war bis auf Unterhose und Stiefel nackt. Im Vorbeifahren sahen wir, dass die Motorräder deutsche Kennzeichen hatten. Dirk drehte sofort um: Die beiden Herren sind mit zwei Kumpels sechs Wochen hier unterwegs. Die beiden Mitreisenden waren aber vorausgefahren und hatten die Kreuzung übersehen, an der die vier eigentlich abbiegen wollten. Jetzt warteten unsere beiden darauf, dass die beiden anderen über die Schotterstraße zurückkämen.
Der Reiseleiter: Wenn man vier Tage miteinander verbringt, tauscht man sich über sein Leben aus. Unser Reiseleiter Dirk erzählte uns seine Geschichte: Er stammt aus Solingen, hat die ganze Welt bereist und in einem Zug im Norden Argentiniens vor 13 Jahren seine heutige Frau ken-nengelernt. Adriana ist die Tochter zweier slowenischer Einwanderer und hat von ihren Eltern die Hosteria Katy übernommen, die dieses Jahr 40 Jahre alt wird. Dirk und Adriana haben drei Kinder.
Der Sturm: Dirk sagt, Patagonien ohne Sturm ist nicht Patagonien. Und so war der Sturm mal mehr, mal weniger stark, unser ständiger Begleiter. Gestern, als wir picknickten, musste ich mal und stieg aus dem Auto. Das war schon schwierig, weil sich die Tür kaum öffnen ließ. Ich stemmte mich gegen den Wind, und versuchte einen möglichst hohen Busch in einer Senke zu erreichen. Der Sturm zerrte mir das Klopapier in Fetzen aus der Hand, und als ich fertig war, war im Umkreis von 20 Metern das gesamte Dornengestrüpp mit Klopapier verziert. Das wollte ich natürlich nicht so lassen, also sammelte ich das Papier wieder ein und beschwerte es mit Steinen, damit kein unnötiger Müll die Landschaft verunstaltet. Das alles dauerte aber so lang, dass mein geliebter Mann sich um mich sorgte und sich ebenfalls in den Sturm wagte. Er kam leider nicht weit, denn der Sturm riss ihm die Brille von der Nase, und weg war sie. Gut, dass er eine Ersatzbrille dabei hat.
In El Calafate
Perito Moreno ist der bekannteste Gletscher Argentiniens. Den haben wir bei einer Fahrt mit dem Boot über den Lago Argentino, den zweitgrößten See Südamerikas, gesehen. Auf dem Lago Argentino treiben viele Eisberge und -schollen. Wir hatten Glück mit dem Wetter: Es war schlecht! Und dann sehen die Eisstücke meistens blau aus. Superschön! In El Calafate gibt es sonst nicht so viel zu sehen: eine Haupteinkaufsstraße, viele Restaurants und Hotels, und jede Menge Reisebüros, die Touren rund um Perito Moreno anbieten. Wer wie wir die Ganztagestour auf dem Lago Argentino macht, sieht sehr viele Eisberge. Ich denke, die Halbtagestour ist durchaus ausreichend. Aber im Nachhinein ist man immer klüger. Zeit sollte man sich auf jeden Fall für das Vogelreservat La Laguna nehmen. Dort kann man nicht nur in aller Ruhe Vögel beobachten, sondern sieht auch noch eine idyllische Landschaft mit hübschen Blumen und Bergen und Wasser im Hintergrund. Bei gutem Wetter auf jeden Fall eine Option für eine mehrstündige Wanderung um den See.
Weiter bis Ushuaia, ans Ende der Welt
Wer nach Ushuaia kommt, will am Ende der Welt sein. Das ist die eigentliche Attraktion dieses Ortes. Von hier starten Kreuzfahrten in die Antarktis, und Tagestouren durch den Beagle-Kanal. Dort gibt es im Wesentlichen drei Sehenswürdigkeiten: Seelöwen, Pinguine und einen Leuchtturm. Außerdem kann man in Ushuaia im Naturpark wandern, oder auf den Gletscher steigen. Einen Teil des Weges übernimmt eine Seilbahn für die, die etwas fauler sind. Mich hatte an Ushuaia zweierlei erstaunt: Erstens ist das Ende der Welt viel bergiger, als ich gedacht hatte, zweitens ist es recht farbenfroh dort.