Zur Biennale in Lyon: 80 Stunden in Terra Latina

Lyon: Viel Zeit für Kultur
Biennale in Lyon: Viel Zeit für Kultur
Lyon: Viel Zeit für Kultur

Die Hauptstadt Terra Latinas liegt in Frankreich – zumindest für einige Tage. Dort treten bei der Biennale in Lyon in 20 Tagen 600 Artisten aus zwölf Ländern auf und tanzen „Vom Rio Grande bis nach Feuerland“. Dabei sind Gruppen aus Peru, Argentinien, Kuba, Mexiko, Kolumbien oder Brasilien. Das Begleitprogramm: Ausstellungen, Literatur, Partys. Natürlich alles mit Schwerpunkt Lateinamerika. Lyon richtet bereits zum zehnten Mal die Biennale aus. 280 Mitarbeiter organisieren das Festival. Kosten: rund 4,5 Millionen Euro. Südamerikanische Impressionen in Europa in 80 Stunden.

Donnerstag, 19. September, 16 Uhr

Ankunft in Terra Latina. Die Straßen sind mit der Nationalflagge geschmückt: große weiße Kreise auf feuerrotem Hintergrund.

18 Uhr 30, Peru

Zwei kleine, dicke Männer mit traurigen Gesichtern spielen auf ihren Streichinstrumenten. Außerdem opfern vier junge Peruaner mit Wollmützen und Ponchos Pachamama. Las Danzantes de Tijeras de Ayacucho beginnen ihren Auftritt melancholisch. Dann werden die Ponchos abgestreift. Darunter: Kostüme mit aufwändiger Stickerei, Pailletten und Fransen. Sie setzen anstelle der Wollmützen schüsselartige, verzierte, glitzernde Hüte auf, die Musik wird schneller, und los geht der Scherentanz.

Von den Mönchen in der Kolonialzeit wurden die Tänzer bezichtigt, einen Pakt mit dem Teufel zu haben. Tatsächlich verstehen sie sich jedoch als Medium zwischen der Gesellschaft und Pachamama. Seinen Namen hat der Tanz von den ungefähr 25 Zentimeter langen Metallplatten, die jeder Tänzer zusammenschlägt – wie eine Schere.

Wie Derwische springen, hüpfen, stampfen und tanzen die Peruaner bei der Biennale in Lyon. Bei jedem Kopfschütteln fliegen die vielen bunten Bänder an ihren Hüten mit, schwingen die Fransen im Takt. Auf dem Rücken liegend springen sie mit dem ganzen Körper in die Luft, bewegen sich auf Kopf und Füßen vorwärts und gelangen von der Rückwärtsrolle in den Handstand in die Rückwärtsrolle.

19 Uhr 30, Mexiko

Schwarz-weiße Bilder zeigen immer wieder den Grenzzaun zu den USA, Graffitis, Wellblech, Wüste und leere Straßen. Vereinzelt Mexikaner in Jeans und T-Shirt, mit Baseballmütze, Sportschuhen und Cola-Dose. Die Botschaft des Fotografen Daniel Zolinsky scheint zu lauten:“So gerne wären die Nord-Mexikaner Teil der Nachbarstaaten“.

20 Uhr 30, Argentinien

Acht schwarze, einfache Holzstühle, vier muskulöse Männer, vier durchtrainierte Frauen in überhohen Schuhen und Fransenkleidchen. Tango. Genauer: TangoKinesis. Dabei ist jede Bewegung Perfektion. Erzählt wird die ewige Geschichte zwischen Mann und Frau: sich sehen und begehren, sich finden und abblitzen lassen, doch miteinander verschmelzen, getanzter Sex bis zum Orgasmus, danach sich nacheinander verzehren und doch auseinander gehen. Visueller Höhepunkt: Ein großer, schlanker, muskulöser Mann tanzt mit einer Frau in schwarzer Wäsche und Strapse. Tango, natürlich!

23 Uhr, Kuba

Große Autos, Che Guevara, Leute auf der Straße, ein bis auf zehn Rollen Toilettenpapier leeres Regal. Havanna in den 70ern, eine Bilderstrecke von Gérard Amsellem:“Sie haben nichts, aber sie sind glücklich“.

Freitag, 20. September bei der Biennale in Lyon

11.30 Uhr, Kuba

Isabel Bustos Romoleroux ist die Choreographin von Danza Teatro Retazos. Sie erzählt:“Retazos ist nur ein kleines Projekt auf Kuba. Aber auch wir werden vom Kulturministerium unterstützt. Jeder Tänzer bekommt im Monat umgerechnet ungefähr 30 Dollar. Und wir haben einen Proberaum von 48 Quadratmetern. Das ist besser als nichts. Wichtiger als das Geld ist aber die absolute Freiheit, alles ausprobieren zu dürfen. Retazos, das sind Fragmente. Wir tanzen eine Art Patchwork mit Einflüssen aus Ecuador, Mexiko, Chile und Kuba. Ich inspiriere mich durch Gemälde, Gedichte und Lieder.“

12.30 Uhr, Kolumbien

Alvaró Restrepo, Choreograph, berichtet:“El Colegio del Cuerpo ist aus Cartagena. Cartagena ist wunderschön und liegt an der Küste. Aber nicht abseits von der politischen Realität. Bei uns gibt es viel Rassismus. Wir sind eine Körper- und keine Tanzschule, weil der Körper in Kolumbien täglich misshandelt wird. Als wir das Colegio gegründet haben, bewarben sich 480 Jugendliche und Kinder um einen Platz. Mit 90 haben wir drei Monate zusammen gearbeitet, dann haben wir 18 ausgesucht. Die elf Jungs und sieben Mädchen sind keine Straßenkinder, aber sie kommen aus armen Familien. Sie arbeiten täglich von acht bis zwölf Uhr mit uns zusammen, dann gehen sie von 13 bis 18 Uhr zur Schule.

13 Uhr 30, Terra Latina

Das Kaufhaus Printemps stellt Kostüme vom großen Umzug aus. Dabei standen 300.000 Menschen an der Straße, um die 4.500 Teilnehmer der 1,5 Kilometer langen Parade zu sehen. Weitere 300.000 verfolgten das Spektakel am Fernseher. Jetzt ziert das orange Kostüm mit pinkfarbenen Einsätzen – Lebenslicht genannt – das Kaufhausschaufenster. Daneben: „Die Reisenden der neuen Welt“ in weinrotem Samt mit Silberborde. Das einfache dunkelblaue Kleid mit roten Volants neben dem weißen Leinenanzug mit einem großen Panamahut heißt „Unterwegs auf der Panamericana“.

16 Uhr, Chile

Frauen mit dicken Hintern und Schenkeln, aber mit kleinen Brüsten werden begierig von Männern umschlungen bei der Biennale in Lyon. Lucia Arameda zeigt ihre Skulpturen.

17 Uhr, Terra Latina

Sechs schwarzhaarige Südamerikaner mit langen, glänzenden Zöpfen, weißen Hosen und bunten Ponchos spielen auf ihren Panflöten – Vangelis‘ Soundtrack zu „1492 – Die Entdeckung des Paradieses“.

20 Uhr 30, Brasilien

Maria Alice Poppe – eine Puppe. Geführt, gedreht, gestützt, geschleudert von Paulo Caldos. Staccato Danca Contemporanea. Er groß, athletisch, Glatze. Sie zierlich, große, dunkle Augen, lange braune Locken. Ästhetik pur. Harte, zackige Bewegungen, schmerzhaftes Sich-auf-den-Boden-schmeißen. Leidenschaft. Der tiefere Sinn bleibt das Geheimnis des Choreographen.

22 Uhr 30, Mexiko

„Bailemos a Mozart por los Angeles que se han ido/por la lucha contra el sida“. Zehn Männer, so schön wie griechische Götter beim Tanz auf dem Olymp. Sie kokettieren mit ihrer Männlichkeit, und betonen trotzdem das Zarte, Weibliche, packen sich an die Geschlechtsteile, tanzen Lust und Leidenschaft – oder doch Liebe? Sie verpacken Fellatio in Kunst – und sind dabei sozialkritisch: Erzählen von der katholischen Kirche und ihrem Umgang mit Prostitution oder berichten von Übergriffen auf Homosexuelle im Land des Machismo. Mutig und erregend anders.

Samstag, 21. September

11 Uhr, Peru

„Meine Generation war 16 oder 17, als die großen lateinamerikanischen Schriftsteller ihre ersten wundervollen Werke schrieben. Literatur gehörte zu unserem Leben, aber für unsere Schriften gab es keinen Platz. Wir sind geprägt vom Geist der 68er. Dann war da auch der Tod Che Guevaras, der revolutionäre Traum. Ich habe mich wegen all diesem entschieden, Journalist zu werden und sozialkritisch an Themen heranzugehen“, erzählt Alfredo Pita.

15 Uhr, Kuba

Der Schwerpunkt liegt auf den afrikanischen Wurzeln, aber auch Europa wird tänzerisch kurz erwähnt. Die 31 Mitglieder des Conjunto Folklorico Nacional de Cuba wollen die Tanz-Tradition der Insel am Leben erhalten. Sie haben sich der Folklore verschrieben. Dazu gehören auch farbenprächtige Kostüme und ein bisschen Karneval.

17 Uhr, Kolumbien

Karneval live hat der Fotograf Enrique Garcia Henriquez in Barranquilla festgehalten: Porträtaufnahmen alter, junger, weißer und schwarzer Menschen. Doch im Karneval sind alle gleich: bunt geschminkt mit wildem Kopfschmuck. Wer glitzert mehr – ihre Kostüme oder die Freude in ihren Augen?

20.30, Kolumbien

Ein Hut, ein Stuhl, zwei Backsteine, zwei Autoreifen. Tote Dinge. Haben Sie eine Seele? „Ja“, sagt das Colegio del Cuerpo aus Cartagena, und beweist es. Denn Dinge zu benutzen, heißt sie zum Leben zu erwecken, ihnen eine Seele einhauchen. Die kann auch schwarz sein. Mit einem Fischernetz werden beispielsweise Menschen gefangen und gefesselt, an Haken hängt man sie auf. Die tägliche Gewalt geht an der Arbeit der 18 Jugendlichen nicht vorbei. „Ich fühle mich schuldig, in Frankreich zu studieren, in diesem absoluten Frieden“, sagt eine junge Kolumbianerin im Publikum. „Und das nur, weil ich weiß bin und meine Eltern Geld haben.“ Nach der Vorstellung wischt sie sich heimlich die Tränen aus dem Gesicht.

23 Uhr, Kuba

Im gleichnamigen Café legt ein brasilianischer DJ Tekkno auf. Bei Cuba Libre erzählt ein betrunkener Franzose, wie gefährlich seine sechsmonatige Reise durch Guatemala, Nicaragua, Honduras und El Salvador war – und wie wunderschön.

Sonntag, 22. September, 17 Uhr, Mexiko

Die Kostüme von Mnemosine sind verschwunden, irgendwo zwischen Mexiko City, Miami, Paris und der Biennale in Lyon. Ob das der Grund ist – oder ob die Tänzer immer so spärlich bekleidet tanzen, bleibt ihr Geheimnis. Zumindest geht es märchenhaft und phantastisch auf der Bühne zu: Frauen schweben – umhüllt von rotem Satin, Lichter verbergen und stellen aus dem Nichts auftauchende zuckende Körper zur Schau, Spiegel zeigen für den Bruchteil einer Sekunde eine liegende nackte Frau von Vorne. Die Tänzer sind auf der Suche nach den anderen und scheinen gleichzeitig vor ihnen zu fliehen. Unterlegt ist die Szenerie mit lauten, harten Tekknobeats. Mnemosine ist die Mutter der Musen.

22 Uhr, Argentinien

Café Tango mit Musik und Tanz. Margarita. Abschied. Hasta luego, Terra Latina.

Das aktuelle Programm gibt es m Internet.

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